Die Tasche

Ledertasche

 

Da ich euch ja versprochen habe, mehr über die Tasche zu berichten, will ich das heute tun. Allerdings habe ich diese ja erst seit zwei Tagen und so ist es nicht erstaunlich, dass ich noch kaum etwas mit ihr erlebt habe. Also möchte ich euch von einer anderen Tasche erzählen, die ich einmal gehabt habe.

Ich hoffe, ihr habt etwas Zeit mitgebracht, denn was ich zu erzählen habe, ist nicht in drei Sätzen getan.

 

 

 

Tasche

In unserem Alltag, wie grau oder bunt er auch immer sein mag, gibt es unzählige Gegenstände, die uns, obwohl dauernd gebraucht, nur selten zu Bewusstsein kommen. Einer jener Gegenstände war mein Herrentäschchen. Eine etwa zwanzig mal fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter kleine schwarze Ledertasche mit je zwei kleinen Seitentaschen und zwei Fronttaschen für Brieftasche usw. Viele meiner Freunde und Bekannten machten sich dauernd und auf vielseitige Weise über mich und meine Tasche lustig. Auch im Wald der Buchin flog der Spott anfangs in grossen Mengen auf mich zu. Dabei galt dieser nur bedingt der Tatsache, dass ich damit wie ein Kondukteur aussah. Eher der Inhalt der Tasche gab oft zu Gelächter Anlass. Jenes unansehnliche Chaos aus Pfeife, Zigaretten, Feuerzeugen, bunten Blättern, Phiolen, Kaugummipapierchen, Miniaturschweissbrenner, Taschenmesser, Schreibzeug, Schnur, Notizbuch und dem kleinen Nest, in dem sich ab und zu ein kleiner Bräunling einnistete. Es verging keine Woche, in der ich mich nicht ermahnte, endlich den ganzen Gerümpel auszukehren und Ordnung zu schaffen, doch konnte ich mich nie wirklich dazu aufraffen, denn ich ahnte dann schon, dass ich bestimmt am nächsten Tag irgendetwas aus dem Ding unbedingt brauchen werde. Ausserdem hätte es sowieso nicht allzu viel Sinn gehabt, denn ich könnte schwören, dass ich nie so viel Zeugs da reingetan habe, wie jeweils drin war – und das, obwohl ständig irgendwelche Sachen spurlos darin verschwanden. Es wäre also absehbar gewesen, dass in Kürze wieder die gleiche Unordnung herrschen würde, auch wenn ich nichts in die Tasche getan hätte.

Doch lasst mich nun erzählen, was mir mit dieser Tasche geschehen ist.

 

Es war an einem jener schon millionenfach beschriebenen kaltfeuchten Donnerstage, welcher der Herbst bei uns zu Lande übl(ich)erweise mit sich bringt. Ich hatte gerade ein turbulentes Wochenende im Wald der Buchin verbracht und stand am Waldrand auf dem Heimweg. Seit einiger Zeit kam ich jeweils mit dem Mofa hierher, da mich die Wanderei doch irgendwann etwas anödete. Doch nun stand ich am Ende des Feldweges bei meinem Mofa und konnte den Schlüssel nicht finden. Nicht in meinen unzähligen Jackentaschen und vor allem nicht in meiner Tasche, wo ich ihn reingetan hatte. Ich fluchte laut und griff noch einmal in die Tasche, vergebens. Wütend und nervös machte ich paar Schritte, suchte noch einmal in den Jackentaschen und griff nach vergeblicher Suche noch einmal wütend und voller Wucht in mein Täschchen, griff weiter und weiter, tiefer und tiefer und tiefer. Die Hand, der Unterarm, die Schulter, alles verschwand in der Tasche. Mir wurde schwarz vor Augen und alles drehte sich in meinem Kopf. Dann zerrten mich Strudel in unbekannte schwarze Tiefen.

 

Erst nach einiger Zeit des Taumelns und Trudelns bemerkte ich, dass ich nicht wie ursprünglich gedacht ohnmächtig geworden war – nein, ich war wach, und wie wach. Und ich stand. Sah Türme und Berge von Geldbündeln, Haufen von Feuerzeugen, Kaugummis, Taschentüchern, Schlüsseln, Ausweispapieren und Fahrkarten. Wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht traf mich die Erkenntnis, wo ich war. Und nun umfing mich erlösend die samtene Dunkelheit der Ohnmacht.

 

 

Am Boden liegend erwachte ich aus meiner Ohnmacht und grosses Unbehagen, wenn nicht gar ein klitzekleiner Anflug von Furcht überkam mich, denn obwohl mir klar war, an was für einem Ort ich mich befand, hatte ich doch nicht die leiseste Ahnung, wo dieser Ort war und vor allem wie ich hier wieder herauskommen könnte. Mir ging die Geschichte von Pinocchio im Walfisch durch den Kopf und die Abenteuer von Alice im Wunderland und ich hoffte, dass ich träumte, und zwickte mich. Vergebens. Das war eine Situation, in der auch schon einmal etwas Verzweiflung aufkommen konnte. Und das tat sie auch. Sie machte mich zittern und ich musste mich zusammennehmen, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

Also setzte ich mich auf einen Stapel Bundesakten (LM – OP 1947-1952) und sammelte meine Gedanken. Irgendwie war ich hierher geraten, also musste es auch wieder einen Weg zurück geben. Da ich ja schon die Erfahrung gemacht hatte, dass Gegenstände einfach wieder aufgetaucht waren, musste es auch für mich eine Möglichkeit geben, zurückzukehren.

 

Ich fing also an, die Gegend etwas genauer in Augenschein zu nehmen, und es dauerte nicht lange, bis mir auffiel, dass ein Grossteil des Gerümpels sortiert oder wenigstens einigermassen ordentlich aufgeschichtet war. Wer auch immer das gewesen war, ich musste ihn finden. Der Weg durch Berge von Schlüsselanhängern und französischer Post war lang und beschwerlich, doch als ich mich gerade auf einen ca. 80 Meter hohen Haarspangenhügel gequält hatte, sah ich weiter vorne ein Licht brennen. Ich nahm also meine Beine unter die Arme und rannte wie ein Irrer den Hügel hinunter auf das Licht zu. Der kleine alte Mann (nein, nicht Pepeto), den ich dort auf einem Louis Toujours sitzen sah, sass gebeugt über ein Blatt Papier, das über den Tisch hinaus in einem gut haushohen Knäuel endete. Als ich mich grüssend dem Mann näherte, sah er auf: «Ich habe dich erwartet. Ich bin der Verwalter.»

Er sagte das so trocken, dass ich beinahe gelacht hätte, doch der Wunsch, aus diesem Alptraum aufzuwachen, war grösser und der einzige Gedanke, der mir wirklich wichtig war, war der, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

 

«Wie komme ich denn hier raus?», blaffte ich ihn für meine Verhältnisse etwas unfreundlich an. «Raus? Bist du von Sinnen? Glaubst du im Ernst, ich würde dich hier rauslassen? Verdammich Junge, ich sitze hier seit einigen Hundert Jahren und nichts liegt mir ferner, als dich hier rauszulassen. Glaubst du, der ganze Mist hier ordnet sich von selbst? Sortieren, systematisieren, ablegend und ordnend stapeln, dass ist hier die Devise. All den ganzen Kram und es wird immer mehr. Und damit nicht genug, alle hundert Jahre will die Verwaltung,  dass ich ihr eine Inventarliste vorbeibringe. Das ist viel Arbeit, mein Herr, viel Arbeit, und ich soll dich rauslassen? Wer soll denn dann meine Nachfolge übernehmen?» Der Alte lachte verächtlich und senkte das graue Haupt wieder über seine Papiere. «Wenn dir deine neue Arbeit nicht passt, musst du dich halt bei der Verwaltung beschweren. Bis dahin allerdings betrachte dich als eingestellt. Und nun mach dich nützlich und sortiere da drüben den Haufen!» Er zeigte auf einen etwa einfamilienhausgrossen Hügel aus Heftklammern, Brieftaschen, Fernsteuerungen, Socken, Tickets, Schlüsseln und was weiss ich nicht was alles. Nicht allzu motiviert latschte ich hin und sah mir das Ganze an. Ne, ne, dachte ich. Den Mist machst du mal ganz alleine! Ich musste irgendwie einen Weg hier rausfinden. Also machte ich mich auf Erkundungstour.

 

Ich war vielleicht eine halbe Stunde unterwegs, als ich zu meiner Linken einen Turm sah, grösser als alles andere, was ich in meinem Leben je gesehen hatte. So sehr ich auch die Augen zusammenkniff, ich konnte sein Ende nicht entdecken. Der Turm verlor sich einfach in der Wolkendecke. Voller Vorfreude lief ich auf den Turm zu, riss die erstbeste Türe auf und stürmte hinein.

Fritz Lang wäre bei dem Anblick in Ohnmacht gefallen. Irgendjemand hatte hier scheinbar die Kulisse von Metropolis geklaut. Die Grösse dessen, was ich hier sah, war einfach überwältigend. Vor mir erhob sich ein zweiter Turm, der dem Äusseren nur in seinem Durchmesser nachstand. Dahinter waren Maschinenanlagen, die sich an Grösse jederzeit mit einer Stadt wie New York messen konnten. In der Mitte des Turmes über der Türe befand sich ein Halbkreis (Durchmesser ca. 60 Meter) aus Bronze mit einem Zeiger und Ziffern. Das Ganze sah aus wie ein riesiger Lift und ich beschloss, einmal nachzusehen, wohin er, falls es wirklich einer war, führte. Rechts neben der Türe gab es zwei goldene Knöpfe mit Schildchen, auf denen wie erwartet AUF und AB stand. Ich drückte auf AUF.

Und dann passierte Furchterregendes. Flammenzungen schossen aus riesigen Feueröfen und Zahnräder so gross wie Fussballfelder griffen mit ohrenbetäubendem Knirschen Zahn um Zahn ineinander. Dampf und Rauch vermischten sich mit Feuersäulen zu einem Inferno, als stünde die Götterdämmerung kurz bevor. Der grosse Zeiger kroch indes von rechts nach links und liess mich betreffs der Maschinen Schreckliches ahnen. Als der Tumult kaum noch auszuhalten war, öffnete sich die Tür und ich stieg mit mehr als flauem Magen und weichen Knien ein. Das grosse Messingschild im Lift (ha, Lift – ca. 400 m2!) verriet mir, dass ganz oben, wo denn sonst, die Verwaltung zu finden war bzw. die «Chefetage». Kaum hatte ich den Knopf gedrückt, als mich so um die 4G zu Boden rissen und mir die Luft aus den Lungen quetschten. Die Fahrt endete kurz vor meinem Erstickungstod und gab mir so Gelegenheit, dankbar zu sein: Wofür weiss ich allerdings bis heute nicht genau. Der Lift stand still und zwei nackte goldbemalte Putten öffneten mir sehr reserviert grüssend die Tür und geleiteten mich an die Rezeption. Dahinter stand in hübscher Uniform gehüllt die Receptionöse, die mich mit aller Erfahrung und wie es sich gehörte professionell ignorierte. Da ich allerdings erst kürzlich bei der Strassenverkehrskontrolle einen neuen Führerausweis beantragt hatte, war mir solches Verhalten alles andere als fremd und schon nach dem zweiten Heiratsantrag wurden die Blicke auf das Blatt Papier, das sie in Händen hielt, konzentrierter und ein Ignorieren war nicht mehr möglich. Auf den fragenden Blick, der mich dann strafte, antwortete ich mit dem freundlichsten «Guten Tag, ich will zur Verwaltung, kündigen», das ich je über meine Lippen gebracht hatte. Nach gut einer Stunde heftigster Streitereien und Prügeln mit dem Sicherheitsdienst, bei denen ich viermal K.O. ging und achtmal mit Sieg nach Punkten gewann, war es dann endlich so weit und ich man führte mich zum Verwaltungschef. Der Raum war riesig und es dauerte eine Weile, bis ich den Mann hinter dem übergrossen Schreibtisch entdecken konnte. Mit gut hundert Schritten war ich an dem riesigen Mahagonimonster und blickte über dessen Kante zum Chef hinauf.

Ich mag keine Chefs und mein respektloser Übermut bahnte sich mit einem «Tach Boss» über meine aufgeschlagenen Lippen. Der mit zurückgekämmter Gel-Frisur und eklig oranger Krawatte ausstaffierte Verwaltungschef hob den Kopf: «Sie sprechen nur, wenn Sie gefragt werden. Ist es richtig, dass Sie die Ihnen angebotene Stelle nicht antreten wollen?»

«Jawohl, eure Eminenz, Sir!», antwortete ich freundlich. «Hm», machte er und schrieb etwas in ein Formular auf seinem Klemmbrett. «Na gut denn, da können wir nichts machen. Allerdings, wie Sie Ihrem Arbeitsvertrag entnehmen können ...» – und mit diesen Worten klatschte er einen dicken Bundesorder vor mir auf den Tisch – «... ist eine Kündigung ausgeschlossen, ausser Sie lösen unser Entlassungsrätsel.»

«Ich, äh», stammelte ich. Nicht nur, dass ich meinen Vertrag nie je zuvor gesehen hatte, ich konnte mich auch nicht entsinnen, etwas unterschrieben zu haben. «Äh, Rätsel?», stammelte ich weiter.

«Ein ebensolches. Die Aufgabe, die Sie zu lösen haben, ist folgende: Erst wenn Sie es fertigbringen, dass nichts mehr in Ihre Tasche hinein oder hinaus kann, geschlossen oder nicht, werde ich Sie wieder nach Hause lassen.» Er grinste mich schadenfreudig an und zeigte mit arrogant jovialer Geste auf meine Tasche.

 

Nun, diese Aufgabe schien mir nun nicht allzu schwierig. Ich packte also alles, was ich in meiner Tasche hatte, in die meine Hosen- und Jackentasche und stülpte das Innere der Tasche einfach nach aussen. So war das Innere aussen und das Äussere innen und das Innere konnte nichts aufnehmen, weil es ja aussen war; und selbst wenn das nicht funktionieren sollte, hatte ich ihn doch zumindest tüchtig verwirrt.

 

Ich gebe zu, dass ich sehr erleichtert war, als er mich nach Hause schickte, und ich weiss bis heute nicht, ob es wirklich die richtige Lösung war – wahrscheinlich hatte er einfach den Durchblick verloren und wollte sich nicht blamieren. Der Heimweg war kurz, etwas zwischen einer und einer Zehntel-Nanosekunde, und die ganze Aufregung war vergebens, denn der Schlüssel hing am Lenker meines Mofas.

 

© Simon Meyer 2002

 

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